Der Ausschlag

Meine Kindheit war nicht gerade das, was man gemeinhin als aufregend erachten würde, aber es war eine Kindheit. Bevor ich das Licht der Welt erblickte, waren einige Anstrengungen meiner Eltern mehr als notwendig, um die Geburt meiner selbst zu ermöglichen. Als einfache Kartoffelbauern blieb ihnen nie ausreichend Raum, sich um die wesentlichen Dinge zu kümmern, die dies dann doch schließlich zu einer Leibesfrucht kommen ließen. Irgendwann, als die Erdäpfelernte früher als gewohnt eingebracht war, wußten sie mit den ersparten Stunden nicht viel anderes anzufangen, als diese mit verstärktem Beischlaf zu füllen. Das war meine Chance. So kam es, daß ich eines späten Junis die Weltbühne betrat. Noch heute erzählen sich meine wenigen Verwandten, daß ich eher ein unansehnliches aber liebenswertes Wesen war. Vom ersten Tag an standen meine Ohren in beinahe rechtwinkliger Form von meinem Kopf ab, dessen Aussehen bei fahlem Licht betrachtet eine deutliche Ähnlichkeit mit einem überdimensionierten Sellerie nicht leugnen konnte. Das sollte sich in den frühen Jahren meiner Existenz auch nicht wesentlich ändern. Meine Arme und Beine waren von einer eher dünnen, schwächlichen Natur und mein Bauch schien immer seltsam aufgebläht. Der Haarwuchs wollte auch nur schleppend einsetzen, und ich kann mich bis heute nicht an einer besonders reichlichen Körperbehaarung erfreuen. Nicht das ich wirklich besonders häßlich schien, so war ich doch ein Kind, das nur Eltern wirklich lieben konnten. Von Anbeginn hatte meine Mutter nicht die Muße sich, in der für ein Jungmenschlein erforderlichen Art und Weise, mit mir zu beschäftigen. Zwar befand ich mich meist in ihrer Nähe – sie legte mich immer in eine von ihr gefertigte Mulde nahe dem Feld, das durch die Arbeit bestimmt ihre Aufmerksamkeit erforderte – aber mehr als die Momente mich ein- bis zweimal zu säugen blieb nicht, so daß unsere Beziehung doch eher sehr beschränkt war. Mein Vater trat in diesen Tagen gar nicht in mein Bewußtsein, kehrte er doch immer etwas später heim und verließ das Haus früher als meine Mutter, um an einem anderen Teil des jeweiligen Feldes seine Arbeit zu verrichten. Wenn die beiden sich schließlich in ihrem Nachtlager trafen, hatte ich schon einige Stunden der Nachtruhe hinter mich gebracht, und mein morgendlicher Hunger trat auch erst ein, wenn er schon längst das Heim verlassen hatte. In den nassen und kalten Perioden des Jahres deckte meine Mutter meine Mulde, so gut es eben ging, mit imprägnierten Leintüchern ab. Ich bekam jedoch genügend Feuchtigkeit ab, um einen über das gesamte Jahr anhaltenden Schnupfen zu entwickeln. Die ersten sechsunddreißig Monate meines Lebens verbrachte ich so, mit der notdürftigen Zuwendung, mehr oder weniger regungslos in meinem Erdloch, darauf wartend, ob sich an dieser Situation etwas ändern sollte. Meine Eltern schienen nicht sonderlich überrascht, das ich weder das Reden noch das Laufen zu erlernen begonnen hatte, vielmehr schienen sie sehr zufrieden, daß ich ein so stilles, pflegeleichtes Kind war und sie sich ganz ihrer anstrengenden Arbeit widmen konnten. Inzwischen hatten sie ihr Arbeitsgebiet auf Steckrüben, Kohl und Rote Bete ausgeweitet, was die mir zur Verfügung stehenden Augenblicke noch weiter einschränkte und dazu führte, daß ich mit ein wenig Sand aus meiner Mulde meinen Hunger selber stillen mußte. Ab und zu kam ich so auch in den Genuß von ein paar Würmern, die doch zu einer immensen Aufwertung meiner Mahlzeiten führten. Ließ die Arbeit doch mal ein paar Minuten der Ruhe, so bekam ich von meiner Mutter einige zerquetschte Kartoffeln als willkommene Abwechslung. Angetrieben durch den im Laufe der Jahre immer stärker werdenden Hunger und den unaufhaltsamen Wachstumsprozeß meines Körpers, begann ich mit fast vier Jahren die ersten zaghaften Gehversuche, die zunächst mehr ein schwankendes Stolpern kurz vor dem Hinfallen waren als etwas, das man wirklich als aufrechten Gang hätte bezeichnen können. Es war gerade zur Osterzeit, als sich meine Gehübungen begannen auszuzahlen und ich anfangen konnte meine nähere Umgebung zu erkunden. Erstaunen erfüllte mich ob der Vielfältigkeit der Welt, die sich hinter meiner Grube auftat. Es galt nun vor allem möglichst schnell herauszufinden, welche Pflanzen und welches Getier sich eigneten, meinen inzwischen mitunter schmerzhaften Hunger ein wenig einzudämmen. Nach einigen unliebsamen Erfahrungen mit verschiedenen Käfern und Beeren, die sich in einer raschen Entleerung des Magen- oder Darminhaltes ausdrückten, bekam ich allmählich ein recht gutes Gespür für die Art der Farben, Formen und Gerüche, die mir einen Hinweis auf Genießbarkeit meiner potentiellen Lebensmittel gaben. So konnte ich mich in recht rascher Folge zu einem Selbstversorger entwickeln, was meine Mutter mit einer kaum merkbaren, versteckten Freude zur Kenntnis nahm, da sie sich nun dieser Verpflichtungen endgültig entbunden sah. Mein Leben begann nun immer mehr ein autarkes Dasein anzunehmen und ich tendierte dazu, den Tag mit ausgedehnten Wanderungen zu füllen, um mich mit der mich umgebenden Natur vertraut zu machen. Immer weiter führte mich mein Forscherdrang und ich stellte fest, daß das Leben selbst einem so jungen Erdenbürger wie mir eine Reichhaltigkeit zu bieten hatte, die einen die Unaufmerksamkeit der kleinen Familie recht schnell vergessen ließ. In rasantem Verlauf entwickelte ich eine Eigenständigkeit, die es mir leichter machte, die Trennung von meinem Elternhaus schon mit sechs Lenzen zu vollenden. Vermehrt war ich bewegt, nicht nur die Tage sondern auch die kühlen Nächte in der mir angenehmen Umgebung zu verbringen, die mehr mit mir zu tun hatte als die Behausung meiner Erzeuger. Meinem Vater und meiner Mutter schien es tatsächlich nicht gewahr zu sein, es hatte vielmehr den Anschein als begännen sie mich, durchaus nicht aus einer bösen Absicht heraus, zu vergessen. So kam es, daß ich eines Tages – es war wieder einmal ein lauer Sommertag angebrochen – beschloß, die nicht wirklich heimischen Gefilde zu verlassen und mein Glück in meiner Welt zu suchen. Trotzdem ich nicht unbedingt reichhaltige Kontakte pflegte, hatte ich gelernt mich einigermaßen verständlich zu machen und mußte mich nicht davor fürchten anderen Menschen zu begegnen. Ich war durchaus in der Lage kurze Gespräche über Wetter, Krankheit oder Liebe zu führen, ohne sonderlich aufzufallen. Mein Lebenswandel – ich war inzwischen neun – hatte bewirkt, daß mir eine Reife zu eigen wurde, die mich nicht sofort als Kind entlarvte, sodaß ich unbescholten meiner Wege gehen konnte. Auch hatte ich mir eine Unauffälligkeit angeeignet, daß niemals auch nur ansatzweise der Eindruck entstehen konnte, ich sei ein verlorener Sohn. Der Wintereinbruch machte mir inzwischen, trotz meiner mangelnden Körperbehaarung, keine Probleme mehr, da ich mich daran gewöhnt hatte mit den Widrigkeiten des Klimas gut klarzukommen. Auch meine fast schon fortwährende Erkältung war inzwischen einer körperlichen Härte gewichen, die es mir ermöglichte, selbst bei extremster Kälte, immer noch wohlige Gefühle zu entwickeln. Ich war sozusagen wirklich eins mit meinem Lebensraum geworden. So verging ein Jahr um das andere und ich wuchs heran. Mein leptosomer Körperbau schien zwar zerbrechlich, doch das war nur rein äußerlicher Natur, was nicht unbedingt schlecht war, bewirkte das doch eine durchaus häufige Zuwendung von Almosen, sowohl in finanzieller wie auch naturaler Gestalt, die mir mein Überleben wesentlich leichter gestalteten, als zu der Zeit, in der ich noch vornehmlich auf mein eigenes Finderglück angewiesen war. Während meiner Adoleszenz traten die üblichen Probleme auf. Aber auch diese konnte ich zum größten Teil meistern. Das einzige, was mir nachhaltig Schwierigkeiten bereitete, war der plötzlich auftretende Drang, den ich nicht genau zu bewerten wußte. Das was ich wahrnahm waren Gefühle in meinen Lenden, die ich mir nicht so recht zu erklären wußte, hatte ich doch auch niemanden, den ich dazu ernsthaft befragen konnte. Ich spürte nur ein ausgesprochenes Verlangen, das mir derartig fremd schien, daß ich nahezu hilflos wurde, eine Erklärung und vor allem auch eine Linderung zu finden. Eines Tages konnte ich zwei Biber bei einem mir sehr fremden und seltsamen Treiben beobachten, stellte aber doch aus meiner mir zu eigenen Intuition heraus fest, daß dies durchaus mit den mich verwirrenden Gefühlen zu tun haben mußte. Nach einigen Tagen des Nachdenkens fühlte ich mich bewegt, aus meinen Beobachtungen erst einmal eine Strategie zu entwickeln, die ich dann an einem mir dafür besonders geeigneten Baum ausprobierte. Diese erste Erfahrung gestaltete sich doch eher schmerzhaft für mich und verschaffte mir eine unangenehme Entzündung des Körperteils, dessen Sinn mir bis heute fremd anmutet. Ich erging mich noch in einigen weiteren Experimenten, die aber nicht wirklich zu einer Auflösung der mir fremden Gefühle führten. So beschloß ich, mich von jenem Thema zu entfernen und meine Erfüllung in anderen Bereichen zu suchen. Mit fortschreitendem Alter – ich muß wohl um die zwanzig Jahre gewesen sein – begann meine Vorliebe sich dergestalt zu entwickeln, daß ich das wurde, was man wohl gemeinhin als ein Extrem des eigenbrötlerischen Daseins bezeichnen würde. Eben in jenen Tagen hatte ich eine folgenschwere Begegnung mit einem Kornfeld. Mein erstes Gefühl war, daß es doch ein unerhöhrt schöner Anblick war, den man mit dem gesamten Körper wahrnehmen möchte. So legte ich also meine spärliche Bekleidung ab und begab mich in einem vollends natürlichen Zustand in jenes Feld. Die Sinneswahrnehmungen, die ich dadurch gewann waren wahrlich positiver Natur, aber nach ein paar Tagen bildeten sich unangenehme rötliche Pusteln auf meinem Rücken. Ich mußte feststellen, daß diese auf Dauer solcherart Begleiterscheinungen hervorriefen, daß ein gewaltiges Jucken einsetzte. Sie begannen im Laufe der ersten Woche eine Unannehmlichkeit zu entwickeln, daß ich mir wünschte niemals diese naturnahe Erfahrung gemacht haben zu müssen. Nach ungefähr drei Wochen verließ mich das Gefühl und auch der Ausschlag bildete sich zurück. Zuerst einmal konnte ich das Ereignis vergessen und widmete mich den üblichen Aufgaben meines einfachen Lebens. Ein paar Wochen später hatte ich mein zweites unschönes Erlebnis mit der Natur, die mir bis dahin doch so vertraut schien. Ein Rosengarten, den ich entdeckte, weckte in mir das Verlangen ihm nahe zu kommen. Also zog ich mich wieder aus, um die Flora intensiv zu spüren. Das führte dazu, daß ich nunmehr an einer Allergie litt, die sich über eine Frist von vier Wochen erstreckte und begleitet war von blasenförmigen Erscheinungen, die sich über meinen gesamten Rücken zogen. Die Auswüchse begannen nach wenigen Tagen zu nässen und riefen ein Brennen hervor, daß mir bisher nicht bekannt war. Aber auch das sollte sich relativ schnell bessern, so daß ich daraus keine ernsthaften Schlüsse ziehen konnte. Es vergingen einige Monate, in denen ich mich wieder und wieder versucht sah, mich der von mir so geliebten Natur auf meine intensive körperliche Manier zu nähern. So mußte ich feststellen, das die Häufigkeit und Stärke der Ausschläge tendenziell bis zu einem gewissen Punkt zunahmen, doch schließlich einen Status erreichten, an dem sie sich nicht mehr wesentlich veränderten. Ich beschloß mich mit dem Umstand zu arrangieren, da es mir ja so wichtig war, meinen Kontakt zur Welt weiterhin dergestalt zu pflegen, denn trotz aller unangenehmen Begleiterscheinungen, war mir dieses Verhältnis eine große Erfüllung. Die Blasen schienen in den nächsten Monaten nicht mehr von meinem Körper weichen zu wollen, doch verstand ich es, trotz heftiger Juck- und Reizempfindungen, mich derart zu beherrschen, daß sich der Zustand der nässenden Auswüchse auf ein für mich erträgliches Maß beschränkte, bis sie sich schließlich zurückzubilden schienen. Diese Geschehnisse verursachten in mir eine ausgesprochene Körperbeherrschung, die mich in die Lage versetzte unglaubliche Momente der Stärke und Selbstzufriedenheit zu empfinden, ohne der Häufigkeit meines Verlangens nachkommen zu müssen. Was ich nicht ahnen konnte, war die Entwicklung der darauf folgenden Jahre. Eine geraume Zeit konnte ich mich in dieser Position halten, aber meine Lust nach dem Lebendigen wuchs in zunehmender Weise und so war ich dann irgendwann doch versucht, meine Begegnungen fortzuführen und zu steigern. Ich begab mich immer mehr in Situationen, wo mein unbekleideter Körper dem Ruf meiner Obsession folgte. Dieses Verhalten bewirkte, daß die Intensität meiner Allergien in einem Rahmen wuchs, daß der Ausschlag sich schließlich in eine chronische Form verwandelte und die Blasen ein Ausmaß annahmen, daß ich nicht mehr einfach unter meiner spärlichen Bekleidung zu verstecken wußte. Es begannen sich die ersten ernsthaften Entstellungen auszubilden. Mein Gesicht und auch mein restlicher Körper verwandelte sich in etwas, das einem warzenüberzogenen Zierkürbis nicht unähnlich war. Im weiteren Verlauf nahmen die Auswüchse nicht nur ausgefallene Formen an, sondern auch ihre Färbungen begannen ein weites Spektrum abzudecken. Ebenso steigerte sich der Reizzustand an einen Punkt, der mir fast unerträglich schien. So wußte ich nicht mehr zwischen Erfüllung und Ablehnung zu unterscheiden. Das einzige, was ich zu dieser Zeit feststellen konnte war, daß ich an die Grenzen der Erträglichkeit kam und mich genötigt sah, eine Entscheidung für mein zukünftiges Leben zu treffen. Im Grunde war ich nicht bereit, meine Zuneigung zur Natur zu beschränken, aber die Folgen daraus nötigten mich eine Endgültigkeit zu akzeptieren, die bis heute meine Bestimmung ist. Meine Liebe war und ist groß genug, um die absolute Zurückgezogenheit ertragen zu können. So entschloß ich mich, mich endgültig aus dem herkömmlichen Leben zu verabschieden und mein Schicksal anzunehmen, daß ich als sozusagen verwachsener Teil einer unerklärlichen Umwelt mein Dasein friste. Heute ist mein Ausschlag derart ausgereift, daß die Ähnlichkeit mit einer menschlichen Gestalt kaum noch erkennbar ist, vielmehr lebe ich in einem Stadium der Verwucherung, das bei anderen Lebewesen nur Schrecken hervorruft. So kommt es, daß ich mir inzwischen einen Winkel in der Natur gesucht habe, an dem ich weiter, mehr oder weniger unauffällig, meinen Gelüsten frönen kann und den Weg zu meinem eigentlichen Dasein versuche zu finden. Ich werde mich damit abfinden müssen, daß ich zu den Ausgestoßenen der Welt gehöre, was für mich nicht einmal ansatzweise ein Problem darstellt. Ich lebe jetzt in einer feuchten Höhle an einem unauffindbaren Ort, und widme mich dem Leben des lebendig gewordenen Geschwürs, das sich nur noch der natürlichen Bedürfnisse und der Abgeschiedenheit und Einzigartigkeit der Natur widmet. Ich bin die Endgültigkeit des Seins und die Traurigkeit der Natur, das verschmutzte Wasser des Lebens und der Odem des Vergänglichen. Ich bin das lebendig gewordene Nichts, das sich nicht für das Hier und Jetzt entscheiden kann. Ich bin die Wahrheit des Unwirklichen und die Konsequenz des Unnatürlichen. Ich bin das wahrhaftig gewordene Ekzem, die Blase des Lebens und der Eiter der Vergangenheit. Ich bin die Warze der Vergänglichkeit. Ich bin DER AUSSCHLAG.